Gespräch mit Prof. Dr. Harald Weinrich
Prof. Dr. Harald Weinrich, Romanist und Germanist, gilt als einer der profiliertesten Sprach- und Literaturwissenschaftler. Er war u. a. Mitbegründer der Universität Bielefeld und erster Direktor des Zentrums für Interdisziplinäre Forschung. An der Universität München begründete er das Fach „Deutsch als Fremdsprache". In Paris lehrt er als erster deutscher Wissenschaftler am Collège de France. - Das DIE-Gespräch mit Harald Weinrich (H.W.) über das Verständnis von Sprache, Kultur und Sprachkultur, die Bedeutung von Sprache für die Gesellschaft und den Einzelnen, die Mehrsprachigkeit als Bedingung für ein gemeinsames Haus Europa führte Gerhard von der Handt (DIE).
DIE: Herr Professor Weinrich, welches ist Ihr Lieblingsbuch in einer anderen Sprache?
H.W.: Montaigne. Die Essays von Montaigne. Die kann ich immer wieder lesen.
DIE: Wie lange mussten Sie Französisch lernen, bis Sie das Gefühl hatten, Montaigne wirklich zu verstehen?
H.W.: Ich muss zunächst erwähnen, dass ich Französisch nicht auf der Schule gelernt habe. Ich bin mit 17 Jahren Kriegsgefangener geworden und kam zunächst in amerikanische, später für zweieinhalb Jahre in französische Kriegsgefangenschaft. Und da habe ich meine ersten französischen Vokabeln gelernt.
DIE: Als Sprachlernmodell ist das wahrscheinlich im Augenblick weniger aktuell.
H.W.: Es gibt erstaunlich viele Menschen, die diejenige Sprache, die sie für ihren Beruf mehr als alles andere brauchen, nicht auf der Schule gelernt haben. Ich war gerade mit einer italienischen Kollegin zusammen, die eine sehr angesehene Germanistin ist und ein hervorragendes Deutsch spricht. Die habe ich gefragt: „Wo haben Sie eigentlich Ihr Deutsch gelernt?" und sie sagte: „Nicht auf der Schule". Auf der Schule hat sie Französisch gelernt. Ich sagte: „Und dann erst haben Sie Deutsch gelernt?" „Nein. Dann habe ich Russisch gelernt." Und schließlich als dritte Sprache, wegen Nietzsche und wegen Rilke und wegen Celan, den sie nachher ins Italienische übersetzt hat, lernte sie Deutsch. Solche Fälle kann man sicher nicht als allgemeines Modell hinstellen. Aber es kommt doch häufig vor, dass eine starke Sprachlernmotivation nicht aus der Schulsituation entsteht, sondern durch irgendeine Konstellation des späteren Lebens.
DIE: Das würde die Diskussion um Mehrsprachigkeit als Ziel der Schule etwas relativieren.
H.W.: Ich will dieses Ziel aber nicht einschränken. Sprachen auf der Schule zu lernen ist sehr wichtig. Es wäre jedoch gut, wenn Sprachen auf den Schulen so gelehrt werden könnten, dass im Lernprozess Ereignissituationen entstehen, die weit ins Leben hineintragen. Denn ich glaube, es gilt eine allgemeine Regel, die besagt, jeder Sprachunterricht ist zu kurz. Ganz gleich, wie gut er ist. Auch wenn er neun Jahre dauert, wie Englisch jetzt auf vielen Schulen. Jeder Sprachunterricht führt nur zum Erfolg, wenn man hinterher weiterlernt nach einer eigenen Sprachlernorganisation, die tief in den Lebensbedingungen verankert ist. Und ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass das oberste Lernziel jedes Sprachunterrichts darin besteht, Weiterlernen zu garantieren, wie immer das geschehen mag.
DIE: Gibt es jetzt noch Aussagen, Gedanken, die Sie nicht im Französischen oder in einer anderen Fremdsprache ausdrücken können?
H.W.: Nein, die gibt es nicht. Ich kann alles, was ich sagen will, in jeder mir überhaupt zur Verfügung stehenden Sprache ausdrücken, aber mit anderen Sprachmitteln. Wenn ich in Paris am Collège de France meine Vorlesungen auf Französisch halte, kann ich mir nicht erlauben, den Gegenstand, über den die Rede geht, unscharf zu fassen. Wenn ich mich diesem Gegenstand in französischer Sprache oder als Romanist auch in italienischer oder spanischer Sprache nähern will, dann muss ich den Gegenstand mit anderen Sprachmitteln genauso fest packen, wie ich ihn sonst mit meiner gewohnten Sprache zu packen in der Lage bin. Also ich finde, dass man sich sehr präzise ausdrücken kann, in allen Sprachen. Aber man muss sich anstrengen. Ich muss, wenn ich mich in eine andere Sprache begebe, mein Instrumentarium flexibel und disponibel halten.
DIE: Sie haben Sprache so gelernt, dass Sie an einem Gegenstand, einem Inhalt Interesse hatten. Und das scheint mir das Fazit zu sein: Auch für die Schüler oder Leute, die an der Schule Sprachen lernen, ist es unbedingt notwendig, dass sie einen Gegenstand oder ein Ziel ihres eigenen Interesses finden, dass sie da weiterlernen und dass man im Übrigen immer in der Anwendung lernt, spricht und sich weiterbildet.
H.W.: Ja, ganz sicher. Ich halte es für ziemlich unwahrscheinlich, dass sehr viele Menschen eine Sprache um der Sprache willen lernen. Es gibt zwar Sprachliebe, die dazu führt, dass man Sprachen lernt um der Sprachen willen. Jugendliche, aber auch Erwachsene, die eine fremde Sprache lernen, haben jedoch meistens - und das ist ihr gutes Recht - völlig pragmatische Zwecke. Jemand rechnet damit, dass er in Frankreich arbeiten muss, jemand will nach Italien reisen, jemand will englisch-amerikanische Publikationen lesen für seinen Beruf, für sein Fach, für seine Wissenschaft. Das sind die Primärinteressen. Man benutzt die Sprache, aber man schaut durch sie hindurch auf die Sachen. Das ist auch völlig legitim, und insofern hat das Sprachenlernen einen instrumentellen, funktionalen und pragmatischen Bedingungsrahmen. Was nun die Erweckung der Sprachliebe angeht, so verfahren die Sprachlehrer am besten ein bisschen trickreich, indem sie ihre Schüler auf dem Weg zu den Sachen ein wenig bei den Wörtern festhalten und den Prozess etwas verlangsamen und beispielsweise sagen: Nun schaut, wie der gleiche Sachverhalt in verschiedenen Sprachen anders gefasst wird und wie auf diese Weise auch der Gegenstand ein wenig anders beleuchtet wird. So erreicht man es, dass bei jedem Umgang mit den Sachen, der wie gesagt primär ist, ein sprachlicher Einschlag hinzukommt. Für die Wissenschaften gilt das ganz ausdrücklich. Ich glaube nicht an eine sprachlich voraussetzungslose Wissenschaft. Ich bin überzeugt, dass in allen Wissenschaften und ganz besonders natürlich in den Geistes- und Sozialwissenschaften immer ein sprachlicher Einschlag mitspielt und dass die Qualität des wissenschaftlichen Umgangs mit den Sachen substantiell verbessert wird, wenn man diesen sprachlichen Einschlag mit berücksichtigt. Und die Schriftsteller sind natürlich diejenigen, bei denen dann dieser sprachliche Einschlag nicht nur mitläuft, sondern voranläuft. So dass man als Autor gut daran tut, der Sprache zu folgen und sich von der Sprache führen zu lassen.
DIE: Steht das in Widerspruch zu den Forderungen und Thesen, die jetzt gerade im Zusammenhang mit dem Europäischen Jahr der Sprachen oft erhoben werden? Angezielt ist die Mehrsprachigkeit - jeder soll mindestens drei Sprachen beherrschen, seine eigene plus zwei Fremdsprachen. Als Ziel wird angegeben, dass eine europäische Identität sich ausbilden soll, dass die Völker sich besser verstehen sollen. Das sind also alles keine pragmatischen, sondern das sind sehr idealistische Gründe.
H.W.: Ich finde, das sind sehr pragmatische Gründe. Wenn wir Europa wollen, dann wollen wir ja ein demokratisches Europa. Und Demokratie ist - das ist keine idealistische, sondern eine durch und durch pragmatische Definition -, Demokratie ist diejenige Gesellschafts- und Staatsform, in der miteinander geredet werden muss, bevor man im Konsens oder Dissens handelt. Das setzt ein gewisses Sprachbewusstsein, eine gewisse Sprachkultur und sogar eine gewisse Sprachkunst voraus, wie wir an manchen unserer Politiker sehen. Insgesamt ist die Demokratie nicht nur mit den großen Staatsreden, sondern auch mit der Unzahl ihrer Gremien, in denen diskutiert und ein Kompromiss ausgehandelt werden muss, eine Staatsform, in der die Kunst des Wortes eine wesentliche Bedeutung hat. Aus diesen gewissermaßen basisdemokratischen Gründen halte ich einen kunstvoll geformten Umgang mit der Sprache für erforderlich für das Gedeihen eines demokratischen Staatswesens.
Nun kommt aber noch das Fremdsprachenelement hinzu. Mit Recht haben der Europarat und die Europäische Gemeinschaft jetzt das Sprachenjahr ausgerufen. Wenn wir uns dem Ziel eines geeinten Europas nähern wollen, dann erwartet uns ein vielsprachiges Europa. Wie nun unter den Bedingungen der Vielsprachigkeit, wie sie in Europa besteht, eine sprachlich gesättigte Demokratie entstehen kann, das hat noch nie jemand klar und deutlich gesagt. Aber dass dies nur unter den Bedingungen der individuellen Mehrsprachigkeit geschehen kann, das scheint mir ganz sicher zu sein. Mehrsprachigkeit ist in der Welt nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Die meisten Menschen dieser Welt, vor allen Dingen auch in den Entwicklungsländern, sind mehrsprachig und müssen es sein, um zu überleben. Einsprachigkeit, wie sie in bestimmten Weltgegenden besteht, ist eine Spätform der Sprachlichkeit, die entstanden ist durch die Bildung großer Flächenstaaten unter den Bedingungen der Kolonialisierung, So sind wir an die falsche Idee gewöhnt worden, als ob Einsprachigkeit normal und Mehrsprachigkeit ungewöhnlich wäre. Es ist genau umgekehrt. Mehrsprachigkeit ist die Regel, Einsprachigkeit ist die Ausnahme.
DIE: Wie viel Kultur ist in Sprache, oder umgekehrt: Kann man Sprache „pur" lernen?
H.W.: Diese Frage ist deshalb nicht ganz leicht zu beantworten, weil - wie schon Grosser in seinem DIE-Interview (DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung, Heft I/2001; Anm. d. Red.) gesagt hat - der Kulturbegriff sehr unterschiedlich gebraucht wird. Pragmatisch gesehen ist alles ziemlich klar. Wenn eine Stadt einen Kulturdezernenten einstellt, weiß jeder, was der zu tun hat. Er muss sich um das Theater kümmern, um die Museen, die Schulen, die Stadtteilfeste, die Malkurse für Kinder. Ich meine also nicht nur die „hohe" Kultur, nicht nur Opernfestspiele. Der Kulturdezernent kümmert sich jedoch nicht um Altenheime, um die Entsorgung des Sperrmülls usw.; man weiß also ganz genau, was ein Kulturdezernent nicht tut. So weit ist der Kulturbegriff pragmatisch klar. - Nun gibt es aber einen anderen Kulturbegriff, der aus der anglo-amerikanischen Anthropologie und Ethnologie gekommen ist und besagt, dass eigentlich alle Lebensäußerungen, sofern sie eine bestimmte Form haben, Kultur sind. Also auch die Hygiene ist demnach Kultur, die Wohnverhältnisse sind Kultur und Abfallentsorgung ist Kultur. Unglücklicherweise hat sich dieser anthropologisch-ethnologische Kulturbegriff seit den 70er Jahren in der Sprachvermittlung festgesetzt. Nehmen wir hingegen den engen und strengen Kulturbegriff, wie er historisch überkommen ist, dann stellt sich die Frage anders, und es gibt natürlich bestimmte Zielkonflikte zwischen den pragmatischen Interessen der Sprachlerner, die zunächst vorwiegend auf irgendwelche Sachkenntnisse aus sind, und dem kulturellen Mehrwert, den diese Sache haben kann und haben muss. Wenn nämlich jeder Sprachunterricht zeitlich zu kurz greift und darauf angewiesen ist, dass man hinterher aus eigenem Antrieb weiterlernt, und zwar auch dann, wenn die pragmatischen Ziele nicht mehr unmittelbar vor Augen stehen, dann muss es einen Antrieb geben, dann muss etwas passiert sein im Sprachunterricht, so dass man sich mit der Sprache anfreundet. Ich glaube, das geht nicht ohne eine Literatur, in der sich eine besonders profilierte Kompetenz und Kunst der Sprache zeigt. Film, Fernsehen und Theater will ich mitrechnen dabei. Wenn auf diese Weise eine kleine love affair mit der Sprache in Gang gekommen ist, dann habe ich Hoffnung, dass es Impulse gibt, die über den institutionalisierten Sprachunterricht hinaus Weiterlernen auslösen.
Love Affair zwischen Sprache und Literatur
DIE: Gibt es im Deutschen ausreichend viele dieser Anreize zu einer love affair?
H.W.: Nein, in Deutschland eher wenige zur Zeit. Es hat in Deutschland in früheren Jahrzehnten und Jahrhunderten eine starke Symbiose zwischen Sprache und Literatur gegeben. Die ist in Deutschland in den Nachkriegsjahrzehnten stärker abgebaut worden als in anderen Ländern, z. B. in Frankreich, in Italien, in Spanien, in Portugal, in England. Auch Polen wäre zu nennen. In diesen Ländern spielt die Sprachkultur in der Öffentlichkeit eine größere Rolle. Ich verwende jedoch auch in Deutschland gerne den Ausdruck Sprachkultur und gehöre mit zu denjenigen, die diesen Begriff, der ursprünglich von Leibniz stammt, bewusst wieder eingeführt haben in die Diskussion. Für mich ist Sprache, Sprachunterricht, Sprachwissenschaft ohne Sprachkultur etwas Monströses. Und in dieser Sprachkultur ist die Literatur derjenige Bereich, in dem kundige Männer und Frauen mit der Sprache besonders kunstvoll umgehen und auf diese Weise zeigen, was man mit der Sprache alles machen kann, wie schön und wie leistungsfähig sie sein kann.
DIE: Ist der Zeitpunkt dieser Entwicklung eher zufällig oder nicht zufällig mit bestimmten politischen oder gesellschaftlichen Entwicklungen verbunden?
H.W.: Die Sprachkultur ist etwa seit den späten 60er
Jahren in den Verruf geraten, eine Ausdrucksform oder ein Instrument der
Bourgeoisie, des Bildungsbürgertums zu sein, so dass man nicht zugleich
links und sprachbewusst sein konnte. Das ist historisch falsch, denn viele
Wortführer des Marxismus, von Rosa Luxemburg bis zu Walter Benjamin, gehörten
zu den Sprachmeistern der deutschen Sprache. Karl Marx will ich ein bisschen
ausnehmen. Er war in mancher, aber nicht in jeder Hinsicht ein Meister der
deutschen Sprache. Aber es gibt eigentlich im Marxismus keine Elemente,
die schlechtes Deutsch legitimieren. Diese Jahre waren ja trotzdem ziemlich
bildungsindifferent, bis zu bildungsfeindlich. Man kann sich das klarmachen,
wenn man die Geschichte des Dudens verfolgt. In den 70er Jahren entstand
über den Rechtschreib-Duden hinaus der sechsbändige Große deutsche Duden.
Da steht im Vorwort - das ist noch ein richtiges 68er Vorwort - , jetzt
solle im Duden
endlich auch die Sprache der Stehkneipen zu ihrem Recht kommen. Und in der
Tat sind in diesem sechsbändigen Duden - der ganze Duden beruht ja auf authentischer
Dokumentation - nur Texte für die Lexikographie ausgewertet worden, die
im 20. Jahrhundert entstanden sind. So dass also keine Goethe-, Nietzsche-
oder Schopenhauer-Wörter in dieses Wörterbuch eingegangen sind, wenn sie
nicht zufällig in Texten des 20. Jahrhunderts wieder verwendet wurden. Ich
habe sehr gekämpft mit den Dudenleuten und habe immer wieder dagegengehalten,
dass die klassische Sprache zur Gegenwart gehört. Dann ist schließlich der
Achtbänder entstanden, in dem diese Wörter drinstehen. Man kann mit dem
Duden in der Hand wieder die deutsche Literatur lesen. - In den 80er Jahren
ist dann schließlich wieder ein deutlicheres Bewusstsein der Sprachkultur
entstanden. Doch fehlt es häufig noch an der Praxis. Aber bei den meisten
derjenigen, die für die deutsche Sprache und überhaupt für Sprachen verantwortlich
sind, weiß man doch, dass die Sprache ohne Kultur auf Krücken geht.
DIE: Und das Gegenteil, die andere Position zu dieser kulturvollen Sprache, wäre die lingua franca?
H.W.: Man versteht heute unter lingua franca das Englische als Weltsprache. Historisch gesehen ist die lingua franca eine Misch- und Behelfssprache, die im 13. Jahrhundert im östlichen Mittelmeerraum entstanden ist, und zwar im Handelsverkehr zwischen Byzantinern und Levantinern mit ihrem Vulgärgriechisch auf der einen Seite und den Völkern der romanischen Welt, Italienern, Franzosen und Spaniern, auf der anderen Seite. Diese Sprache ist dann in venezianischem Italienisch lingua franca genannt worden, das heißt Sprache der Franken. Wir würden heute sagen, Sprache der Westler. Das ist die erste historisch attestierte Pidginsprache, auch das Wort Pidgin stammt ja aus dem Wort Business. Heute wird nun gesagt, dass wir im Zeitalter der Globalisierung wieder eine lingua franca brauchen, ebenfalls auf westlicher Grundlage, jedoch diesmal auf englischer Sprachbasis. Als lingua-franca-Englisch ist die englische Sprache die erfolgreichste Sprache der ganzen Welt. Sie wird in der Wirtschaft, in der Wissenschaft, in den Medien, in Computerbereichen sowie im Flugverkehr mit großem Erfolg benutzt. Das ist alles richtig und gut. Ich ziehe daraus mit vielen anderen Beobachtern der Szene den Schluss, dass die englische Sprache heute von allen Menschen, die bewusst an der gesellschaftlichen Entwicklung teilnehmen, gelernt werden muss. Die Anglophonie ist eine Bedingung der modernen Welt.
Lingua franca - Englisch und Mehrsprachigkeit
DIE: Und daran soll sich auch nichts ändern?
H.W.: Das soll alles gerne so sein und bleiben, sofern nur garantiert ist, dass diese englische Sprache nicht jede Mehrsprachigkeit erdrückt. Das aber kann leicht geschehen, wenn die englische Sprache durch ihren weltweiten Erfolg auf die meisten Sprachlerner so wirkt, als ob sie die Fremdsprache schlechthin wäre, neben der es andere Fremdsprachen von Bedeutung gar nicht mehr gäbe. So kommt nun eine spezifische Gefahr auf, wenn Englisch als erste Fremdsprache gelernt wird - und das ist ja fast immer der Fall heutzutage. Dann nämlich drängt sich dieses lingua-franca-Englisch mit der Evidenz seiner globalen Erfolge so auf, dass die Motivation zum Erlernen anderer Fremdsprachen abrupt abbricht, sobald die englische Sprache das pragmatische Ziel erreicht hat, dass man sich auf Flugplätzen oder bei irgendwelchen öffentlichen Musikveranstaltungen auf Englisch zurechtfinden kann. Dieses lingua-franca-Englisch ist ein Motivationstöter für jede Art Sprachkultur. Das Bewusstsein der Sprachlerner wird ganz auf eine Behelfssprache umgepolt. Im Zeitalter der Globalisierung muss aber das Minimum europäischer Sprachkultur bei zwei Fremdsprachen liegen, doch darf dabei die englische Sprache nicht die erste Fremdsprache sein, damit sie nicht zugleich die letzte Fremdsprache wird. Die englische Sprache ist als zweite Fremdsprache immer noch genug bedient, weil Englisch ja eine so starke Außenmotivation hat wie keine andere Sprache. Was wir im Moment machen auf unseren Gymnasien mit neun Jahren Englisch, das macht jede Sprache kaputt. Diese neun Jahre können ohne weiteres auf drei oder vier Jahre gekürzt werden, so dass relativ kostenneutral eine weitere europäische Sprache in dieses Programm eintreten kann, und zwar an Stelle der ersten Fremdsprache.
DIE: Welche Sprache könnte das sein?
H.W.: Welche Sprache das im Einzelnen ist, kann hier offen bleiben. Das mag eine Nachbarsprache sein, sagen wir in Nordwestdeutschland das Holländische, in Norddeutschland das Dänische oder Schwedische, in Ostdeutschland das Polnische, in Südwestdeutschland das Französische. Aber ich möchte den Ausdruck Nachbarsprache nicht nur im rein geographischen Sinne verstanden wissen. In Europa sind wir auch aus historischen Gründen von Nachbarsprachen umgeben. Beispielsweise ist die französische Sprache in exzellentem Maße eine Nachbarsprache, weil das Französische uns Deutsche seit mehreren Jahrhunderten aus nächster Nähe begleitet hat. Und das gilt in ähnlicher Weise für das Italienische und Spanische und manche anderen Sprachen wie Polnisch ebenso. Das Sprachenpanorama, das ich mir als europäische Mehrsprachigkeit vorstelle, wäre jenseits der Muttersprache eine erste Fremdsprache x, die aber so reich entwickelt sein soll, dass es sich lohnt, sich mit dieser Sprache längere Zeit zu beschäftigen. Und dann Englisch als zweite Fremdsprache. Und die darf dann gerne auch mit stark pragmatischen Komponenten gelehrt werden, wenn sie sich nicht darauf beschränkt. Da hat es das Englische manchmal schwer, weil es sich mit seinen pragmatischen Erfolgen seiner eigenen Kultur in den Weg stellt.
Qualitätsansprüche der Deutschlerner ernst nehmen
DIE: Im Augenblick wird über Einwanderungsgesetze diskutiert. In dem Zusammenhang auch darüber, wieviel Sprache man eigentlich braucht, um hier leben, gut leben zu können. Wie viel Deutsch braucht man denn als Ausländer, um gut zu leben in Deutschland?
H.W.: Die Figur des Migranten oder der Migrantin ist
sehr vielgestaltig. Vom traditionellen Gastarbeitertypus aus früheren Jahrzehnten
bis hin zum Greencard-Besitzer ist der Typus Mig
rant nicht genau fassbar. Insofern kann man nur schwer allgemeine Aussagen
machen. Ich kenne dieses Phänomen aus eigener Anschauung am besten aus der
Perspektive der Universität, da ich 14 Jahre am Institut für Deutsch als
Fremdsprache der Universität München tätig gewesen bin, wo wir immer viele
Hunderte ausländischer Studenten aus rund 25 verschiedenen Nationen hatten.
Insofern weiß ich auch, dass diese Studenten und Studentinnen mit großen
kulturellen Erwartungen in das Land Goethes, Nietzsches und Max Webers gekommen
sind und dass viele von ihnen ein Schreibheft in der Tasche führen und den
Ehrgeiz haben, in literarischer Sprache aufzuzeichnen, was ihnen hier widerfährt.
Ich will daraus nur eine Folgerung ableiten: Der sprachliche Anspruch der
Ausländer an die deutsche Sprache und Sprachkultur ist wesentlich höher,
als wir Deutschen meinen. Es geht in vielen Fällen darum, dass wir uns bei
den Ausländern, die nach Deutschland kommen, deutsche Sprachkultur wieder
zurückholen müssen. Ich kenne viele Inder, Perser, Japaner, Franzosen, Italiener,
Spanier, die nach Deutschland kommen und eine viel höhere deutsche Sprachkultur
haben als die meisten Deutschen. Bei meinen Studenten und Studentinnen habe
ich das beste Deutsch immer in den Arbeiten von Ausländern bekommen. Viel
besseres Deutsch als von den Deutschen. Ich habe oft unsere deutschen Studenten
und Studentinnen gesagt, geht hin zu den Ausländern und lernt gutes Deutsch
von denen. In Sprachkursen ist deshalb die Dauer gar nicht so wichtig, sondern
es ist wichtig, ob wir die sprachlichen Qualitätsansprüche der Deutschlerner
überhaupt ernst nehmen und bereit sind, sie zu erfüllen. Das ist meine allgemeine
Empfehlung. Sprachkurse müssen natürlich auch eine bestimmte Ausdehnung
haben. Sprachenlernen braucht Zeit. Vor allen Dingen aber muss es Qualitätserfordernisse
erfüllen.
DIE: Wieviel und wofür sollen Migranten also Deutsch lernen?
H.W.: Ein Aspekt, auf den wir Deutschen so leicht nicht kommen, ist für die Ausländer, ob sie so viel Deutsch können, dass sie mit den Deutschen feiern können, Geburtstage beispielsweise. Ob sie in der Firma oder auf dem Rastplatz, wenn ein deutscher und ein belgischer Lastwagenfahrer zusammenkommen, ob sie sich dann über den Motor des Lasters und über die Fahrtbedingungen richtig verständigen können, ist weniger wichtig, als dass sie in der Lage sind, miteinander über ihre Familien zu sprechen, von ihren Kindern zu berichten, überhaupt ihre Geschichten zu erzählen. Identität läuft ja meistens über Geschichten; ich weiß gar nicht, wie man Identität präsentieren kann, wenn nicht in Geschichten.
Wir selber müssen deshalb auch viele andere Sprachen lernen, wir Deutschen. Wenn wir uns bequem in den Sessel zurücklehnen und sagen, nun sollen die andern mal kommen, und denen sagen wir: Nun lernt mal schön Deutsch, und wir selber bleiben einsprachige verkürzte Existenzen - das geht nicht.
Deutsches Institut für Erwachsenenbildung
Oktober 2001
Gerhard von der Handt, Harald Weinrich, "Sprache ohne Sprachkultur
ist für mich etwas Monströses".
Online im Internet:URL: http://www.diezeitschrift.de/42001/gespraech.htm
Dokument aus dem Internetservice Texte online des Deutschen Instituts für
Erwachsenenbildung
http://www.die-bonn.de/publikationen/online-texte/index.asp