DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung

Lernstandorte in raumsoziologischer Perspektive

Henning Feldmann/Emanuel Hartkopf

Über die Zusammenhänge zwischen sozialräumlichen Strukturen und die Nutzung städtischer Lernorte am Beispiel der Stadt Bochum

Im Folgenden werden erwachsenenpädagogische Lernorte unter einer im Diskurs bislang nicht etablierten sozialräumlichen Perspektive betrachtet. Für diese Analyse dient die Stadt Bochum als Untersuchungsbeispiel. Obwohl sich in einer Sozialraumanalyse große sozio-demografische Disparitäten innerhalb Bochums nachweisen lassen, können die Nutzungsstrukturen der einzelnen Lernorte entgegen gängiger Annahmen nicht allein unter Rückgriff auf diese Merkmale erklärt werden. An den Beispielen Volkshochschule, Stadtbücherei und Schauspielhaus/Symphoniker kann gezeigt werden, dass die Nutzung von Lernorten auch räumlich beeinflusst wird. Insbesondere die Raumkategorien Nähe und Distanz können den Einfluss sozialer und demographischer Merkmale überformen. Auf diese Weise wird die Lernortdebatte um wichtige Aspekte ergänzt und sie wird anschlussfähig an den Diskurs über die Weiterbildungsregulation.

Der Lernortbegriff ist in der erwachsenenpädagogischen Diskussion in unterschiedlichen Facetten anzutreffen:

Wolfgang Seitter unterscheidet beispielsweise zwischen vier Kontexte, innerhalb derer über Lernorte diskutiert wird (vgl. Seitter 2001). So stehen die Lernorte Betrieb und (Berufs-)Schule im Zentrum des berufs- und betriebspädagogischen Kontextes. Außerdem werden der Lernort Arbeitsplatz und dessen Möglichkeiten in der betrieblichen Weiterbildung (zum Teil mit einer programmatischen Färbung) thematisiert (vgl. Dehnbostel 2002). Im Zuge eines steigenden sozial- und geisteswissenschaftlichen Interesses an Alltagskultur und konkreten kleinräumigen kulturellen und sozialen Phänomenen in den 1980er Jahren hat sich vornehmlich in der allgemeinen Erwachsenenbildung der alltagskulturell-stadtteilbezogene Kontext herausgebildet. Charakteristisch hierfür sind Überlegungen, die sich unter der Leitkategorie des ‚Lernens vor Ort’ zusammenfassen lassen (vgl. Rogge 1991; Nuissl 1991). In erster Linie didaktische Fragen stehen im Zentrum des lernökologisch-raumbezogenen Kontextes. Es geht hier um Fragen der räumlichen Beeinflussung (z. B. durch den Kursraum) von Lern- und Vermittlungsprozessen (vgl. Fell 1999). Der erziehungswissenschaftlich-zeitdiagnostische Kontext hebt auf empirisch feststellbare Phänomene der Ausdehnung und Pluralisierung von Orten, an denen Erwachsene intendiert und unintendiert lernen, ab und wird auf die These der Universalisierung des Pädagogischen zugespitzt. Lernorte sind in dieser Perspektive nicht nur explizite Einrichtungen der Erwachsenenbildung, sondern auch kulturelle Einrichtungen wie Museen, Theater- oder Konzerthäuser und Stadtbüchereien. Darüber hinaus werden in Vereinseinrichtungen, Familien, Reiseveranstaltungen usw. weitere Lernorte gesehen (vgl. Seitter 2001).

Dieser kursorische Überblick über die Lernortdebatte in der Erwachsenenbildung deutet zweierlei an: Zum einen wird deutlich, wie wenig konkretisiert der Lernortbegriff ist und wie unterschiedlich in der Folge die Akzentsetzungen in den einzelnen Kontexten sind. Eine Verwendung des Lernortbegriffs muss demnach immer mit einer Begriffsbestimmung einhergehen sowie mit einer deutlichen Positionierung in der wissenschaftlichen Diskussion. Zum anderen zeigt sich, dass die Lernortdebatte bislang nicht mit einer raumsoziologischen Akzentuierung geführt worden ist. Einzige Hinweise darauf, dass Lernorte auch in ihrer geographischen Lage in den Blick genommen werden können, sind in den Diskussionen über die Lernenden Regionen und die Vernetzung von Lernorten innerhalb einer Region mit dem Ziel der Optimierung des Weiterbildungsangebotes zu sehen (vgl. Dehnbostel 2002; Matthiesen/Reutter 2003; Nuissl u. a. 2006). Der Raum als Einflussfaktor auf die Nutzungsintensität unterschiedlicher Lernorte kommt auf diese Weise nicht in den Blick.

Der »Lernort im Raum«

Im Folgenden soll gezeigt werden, welche weiterführenden Aufschlüsse möglich sind, wenn man Lernorte bzw. die Nutzung dieser vor dem Hintergrund sozialräumlicher Befunde untersucht. Lernorte werden auf diese Weise nicht mehr an sich betrachtet. Es geht vielmehr um den Lernort im Raum. Somit kann man für die hier gewählte Perspektive genauer von Lernstandorten sprechen. Durch die Frage nach der Nutzung von Lernorten im Sinne von Teilnahme (z. B. an Volkshochschulkursen) oder Besuch (z. B. von Konzerten oder Theateraufführungen) wird die Lernortdebatte insofern in einem weiteren Kontext etabliert, als sie anschlussfähig an die Debatte um die Regulative der Weiterbildung gemacht wird (vgl. Arnold u. a. 2002; Wittpoth 2006).

Dass der Faktor Raum eine zu unrecht „vergessene Kategorie zur Erklärung von Weiterbildungsverhalten“ ist (Feldmann/Schemmann 2006), konnte bereits in Arbeiten gezeigt werden, die im Anschluss an ein Forschungsprojekt des Lehrstuhls für Erwachsenenbildung der Ruhr-Universität Bochum entstanden sind. Auf der Grundlage einer Sozialraumanalyse der Stadt Bochum (vgl. Hartkopf 2006) konnten Teilnehmerdaten zentraler Einrichtungen der allgemeinen öffentlichen Erwachsenenbildung (Volkshochschule und Familienbildungsstätten) in Form von Teilnahmedichten (Belegfälle pro 1000 Einwohner) untersucht werden. Die Sozialraumanalyse selbst ist ein stadt- und regionalsoziologisches statistisches Verfahren, in dem auf der Grundlage sozio-demographischer Merkmale regionale Einheiten systematisch beschrieben und typisiert werden können (vgl. Friedrichs 1977). Für die Stadt Bochum zeigt sich, dass sich bezogen auf soziale Merkmale wie Ausländeranteil, Sozialhilfequote, Arbeitslosenquote usw. insgesamt fünf unterschiedliche Sozialraumtypen von Ortsteilen identifizieren lassen. Bezogen auf demographische Merkmale zur Altersstruktur und Familienstatus lassen sich insgesamt sechs Ortsteiltypen bilden. Als Ergebnis der Sozialraumanalyse über die Stadt Bochum wird deutlich, dass die Stadt unter sozio-demographischen Gesichtspunkten ein insgesamt sehr heterogenes Bild aufweist. Die sozialen Disparitäten in Bochum sind also deutlich ausgeprägt (vgl. Hartkopf 2006). Die folgenden beiden Abbildungen können diesen Befund noch einmal graphisch verdeutlichen. In Abb. 1 wird zunächst der so genannte Sozialindex abgebildet. Je dunkler ein Ortsteil in dieser Karte eingefärbt ist, desto höher ist dessen soziale Belastung (hohe Arbeitslosen- und Sozialhilfequote, hoher Ausländeranteil usw.). Abb. 2 zeigt die Karte für den Demographischen Index. Auch hier weist eine dunklere Einfärbung auf eine ungünstige demographische Struktur (hoher Altenanteil, wenig Kinder und Familien) hin.


Abb. 1: Stadt Bochum, Sozialindex

Quelle: Hartkopf 2006


Abb. 2: Stadt Bochum, Demographischer Index

Quelle: Hartkopf 2006

Besonders auffällig bei den angesprochenen Untersuchungen zu Bochum ist es, dass die Teilnahmedichten der Ortsteile stark voneinander abweichen. Diese Abweichungen können nicht allein unter Rückgriff auf sozio-demographische Variablen erklärt werden, wie es gängige Annahmen zunächst vermuten ließen. Vielmehr wird deutlich, dass zum einen die Nähe bzw. die Entfernung zu einer Einrichtung ein entscheidender Faktor bei der Entscheidung für oder gegen die Teilnahme an Weiterbildung (in einer bestimmten Einrichtung) sein kann. Weiterhin konnte gezeigt werden, dass das Bewusstsein, in einem bestimmten Raum (z. B. Ortsteil) zu leben, dazu führen kann, dass Veranstaltungen in Einrichtungen, die in diesem Raum liegen, bevorzugt besucht werden, während andere Einrichtungen in anderen Räumen weniger bis gar nicht aufgesucht werden. Am Beispiel der beiden katholischen Familienbildungsstätten in Bochum konnte diese ‚mentale Zugehörigkeit’ besonders deutlich dargestellt werden. Die Teilnahmestruktur dieser beiden Einrichtungen ist vor dem Hintergrund der sozialräumlichen Disparitäten in Bochum um so bemerkenswerter (vgl. Schemmann 2006; Feldmann/Schemmann 2006).

Angeregt durch derartige Befunde lässt sich nun nach den sozialräumlichen Nutzungsstrukturen unterschiedlicher städtischer Lernorte fragen. Im Folgenden wird es darum gehen, den ‚traditionellen’ Lernort Volkshochschule mit weiteren oft genannten Lernorten unter der beschriebenen Perspektive zu vergleichen. Als Beispiele werden hier die Teilnahmedichten der einzelnen Bochumer Ortsteile von Veranstaltungen der Bochumer Volkshochschule mit entsprechenden Nutzer- bzw. Besucherdaten der Bochumer Stadtbücherei und des Bochumer Schauspielhauses bzw. der Symphoniker verglichen. Die untersuchten Daten entstammen dem bereits angesprochenen Forschungsprojekt am Lehrstuhl für Erwachsenenbildung in Bochum.

Die Volkshochschule Bochum als Lernstandort

Um die räumliche Verteilung der Nutzung der Volkshochschulangebote in Relation zur Bevölkerung der einzelnen Ortsteile abbilden zu können, wurden sog. Teilnahmedichten für Bochumer Ortsteile ermittelt, die der folgenden Abbildung entnommen werden können.


Abb. 3: VHS Bochum, Teilnahmedichte je Stadtteil

Quelle: eigene Berechungen

Die Stadtteile Gleisdreieck und Südinnenstadt weisen mit Abstand die höchste Teilnahmedichte aller Stadtteile auf. Auffallend ist, dass es sich hierbei um diejenigen Ortsteile handelt, die in direkter Nähe zur VHS liegen. Die VHS selbst liegt im Gleisdreieck, die Südinnenstadt grenzt hieran an. Als weitere Tendenz lässt sich benennen, dass die peripheren Stadtteile eine eher geringe Teilnahmedichte aufweisen, während die Teilnahmedichte der zentraler gelegenen Stadtteile meist etwas höher ausfällt.

In einem nächsten Schritt scheint es angebracht, die dargestellte Teilnahmedichte mit den Stadtteiltypisierungen aus der Sozialraumanalyse in Beziehung zu setzen. Es geht also um die Frage: Inwiefern hängen sozialer und demographischer Status eines Stadtteils mit dessen Teilnahmedichte zusammen?

Wie in Abb. 4 zu erkennen ist, besteht auf der Ortsteilebene kein statistischer Zusammenhang zwischen dem Sozialindex und der Teilnahmedichte.

Abb. 4: VHS Bochum: Teilnahmedichte und Sozialindex


Quelle: eigene Berechnungen

Im Anschluss an gängige Annahmen der Weiterbildungsdiskussion wäre davon auszugehen, dass die sozial wenig belasteten Ortsteile (z. B. Linden oder Hordel) durch eine tendenziell höhere Beteiligungsquote auffallen, während stärker belastete Ortsteile eher durch eine niedrige Teilnahmedichte charakterisiert seien (vgl. Kuwan u. a. 2006). Es zeigt sich allerdings, dass die sozial-räumlichen Strukturen offenbar durch einen anderen raumspezifischen Einflussfaktor überformt werden können. Dieser mögliche Einflussfaktor kann mit den Kategorien Nähe und Distanz zum Lernstandort beschrieben werden. Es lässt sich die These ableiten, dass die Höhe der Beteiligungsquoten im Zusammenhang steht mit der räumlichen Lage und der Erreichbarkeit des Lernortes. Gestärkt wird diese These des Raumeinflusses durch einen Blick auf die Stadtteile Südinnenstadt, Wiemelhausen-Brenschede und Querenburg. Durch diese Stadtteile verläuft eine zentrale Bochumer U-Bahnlinie (U35). Diese Linie führt direkt zur VHS und erleichtert somit deren Erreichbarkeit für die Bevölkerung der benannten Ortsteile, die alle eine leicht bis stark überdurchschnittliche Weiterbildungsbeteiligung aufweisen. Im Hinblick auf den Sozialindex sind sie allerdings stark unterschiedlich.

Ausgehend von der Tatsache, dass bei der Betrachtung der Weiterbildungsdichte und der Sozialstruktur der Ortsteile kein Zusammenhang festgestellt werden konnte, wurden sog. Fachbereichsprofile für die einzelnen Ortsteile ermittelt. Hiermit wird auch der internen Fachbereichs- bzw. Angebotsdifferenzierung der VHS Rechnung getragen. In dieser Betrachtungsweise zeigen sich dann statistische Zusammenhänge. Der nachstehenden Abbildung sind die Fachbereichsprofile der einzelnen Bochumer Ortsteile – geordnet nach absteigendem Sozialindex – zu entnehmen. Die Profile beschreiben jeweils, welchen Anteil die nach Fachbereichen zugeordneten Belegfälle an allen Teilnahmefällen des betreffenden Ortsteils ausmachen.

Abb. 5: VHS Bochum: Teilnahme nach Fachbereichen, Sozialindex

Quelle: eigene Berechnungen

Aus der Abbildung wird deutlich, dass sich die Belegfälle eines jeden Ortsteils unterschiedlich über die einzelnen Fachbereiche verteilen. Bei einigen Fachbereichen lässt sich in der Abfolge der Ortsteile auch eine leichte Tendenz erkennen. So steigt z. B. der dunkelblaue Balken (Fachbereich 9, Schulabschlüsse) bei abfallendem Sozialindex an. Im Ortsteil Stiepel machen die Belegfälle in diesem Fachbereich einen geringeren Anteil aus als bei den Belegfällen aus den sozial benachteiligten Ortsteilen wie bspw. Hamme oder Gleisdreieck. Für die Stiepeler Teilnahmestruktur an Kursen der Volkshochschule heißt das letztlich, dass die Schulabschlüsse hier eine geringere Bedeutung haben, als in anderen, sozial schwachen Ortsteilen. Neben den Schulabschlüssen nimmt auch der Fachbereich 2 (Kultur und Deutsch[1]) mit zunehmend schlechterem Sozialindex (sinkender Status und stärkere Benachteiligung) tendenziell an Bedeutung zu. Bei den Fachbereichen 5 (Natur und Umwelt), 6 (Fremdsprachen I) und 8 (Gesundheit und Psychologie) finden sich ebenfalls Zusammenhänge mit dem Sozialindex, allerdings in umgekehrter Richtung. Hier sinkt die Bedeutung dieser Fachbereiche in der Teilnahmestruktur der Ortsteile mit abnehmendem Sozialindex. Konstatiert werden kann, dass bei einer fachbereichsdifferenzierten Betrachtung der Einfluss sozialer Faktoren trotz des Raumeinflusses auf die allgemeine Teilnahmedichte sichtbar wird.

Zwischen der Teilnahmedichte und dem Demographischen Index auf Ortsteilebene ist eine mittelstarke gegenläufige Korrelation festzustellen. Die „überalterten“ und wenig familiengeprägten Ortsteile weisen tendenziell eine höhere Beteiligungsquote als die „jungen“ und stärker familiengeprägten Ortsteile auf (vgl. Abb. 6). Im Gegensatz zur Sozialstruktur hängt also die demographische Struktur mit Verteilung der Teilnahmedichten zusammen. Dieser Befund korrespondiert mit dem Image der VHS als einer Einrichtung mit einer eher überalterten Nutzerstruktur.


Abb. 6: VHS Bochum: Teilnahmedichte und Demographischer Index


Quelle: eigene Berechnungen

Die Stadtbücherei Bochum als Lernstandort

Betrachtet man die Stadtbücherei Bochum als Lernstandort in der oben beschriebenen Perspektive, so wird der Raumeinfluss auf die Nutzerstruktur besonders deutlich. Im Gegensatz zur VHS zeichnet sich die Stadtbücherei dadurch aus, dass sie über mehrere in der Stadt verteilte Zweigstellen verfügt. Diejenigen Ortsteile, in denen sich eine Zweigstelle befindet, weisen eine höhere Nutzerdichte auf. Die Nutzerdichten wurden für Kinder und Erwachsene (Trennung Volljährigkeit) getrennt berechnet. Es zeigt sich, dass bei Kindern der Einfluss des Faktors Nähe/Distanz stärker zum Tragen kommt als bei Erwachsenen, was auf die eingeschränkte Mobilität von Kindern zurückzuführen ist.[2] In den beiden nachfolgenden Abbildungen wird dieser Zusammenhang offensichtlich (fettgedruckte Ortsteilnamen kennzeichnen die Zweigstellen).

Abb. 7: Stadtbücherei Bochum: Nutzungsdichte (Erwachsene) je Stadtteil

Quelle: eigene Berechnungen


Abb. 8: Stadtbücherei Bochum: Nutzungsdichte (Kinder) je Stadtteil

 

Quelle: eigene Berechnungen

Statistische Zusammenhänge zwischen der Nutzerdichte und dem Sozialindex sowie dem Demographischen Index lassen sich weder bei den Erwachsenen noch bei den Kindern feststellen. Auch bei der Stadtbücherei wirkt der Raumeinfluss über sozialdemographische Grenzen hinweg.

Betrachtet man die Nutzerdichte beider Gruppen, den Kinderanteil unter den Nutzern und den Kinderanteil in den einzelnen Ortsteilen (korrespondiert mit dem demographischen Index) im Zusammenhang, dann zeigt sich, dass in familiengeprägten Ortsteilen mit hohem Kinderanteil an den Nutzern ein geringerer Teil der Erwachsenen die Stadtbücherei nutzt als in anderen Ortsteilen. Die Eltern überlassen quasi ihren Kindern verstärkt ‚das Feld’. In kaum familiengeprägten Ortsteilen nutzen die Erwachsenen die Stadtbücherei hingegen überdurchschnittlich häufig und die wenigen Kinder entsprechend auch nur unterdurchschnittlich.

Bochumer Schauspielhaus und Symphoniker als Lernstandorte

Im Zusammenhang mit der Lernortdebatte geraten auch Kultureinrichtungen wie Schauspiel- oder Konzerthäuser als Orte des Lernens Erwachsener in den Blick. Vor diesem Hintergrund wurden zur Erweiterung der hier gewählten Perspektive die Besucherdaten des Bochumer Schauspielhauses und der Bochumer Symphoniker in die Analyse mit einbezogen. Als Grundlage der Berechnung dienten die Abonnentenzahlen der beiden Einrichtungen. Im Gegensatz zu den Befunden zur VHS und zur Stadtbücherei zeigen sich hier quasi erwartbare Ergebnisse. Es lassen sich eindeutige und statistisch belastbare Korrelationen zwischen den Besucherdichten und dem Sozialindex feststellen. Von den zehn Ortsteilen, die eine überdurchschnittliche Besucherdichte bezogen auf das Bochumer Schauspielhaus aufweisen (vgl. Abb. 9), zeichnen sich insgesamt sieben durch eine positive Sozialstruktur aus. Außerdem sind in diesen ‚Top 10’ keine Ortsteile zu finden, die sozial hoch belastet sind (ein gleiches Bild ließe sich auch für die Bochumer Symphoniker darstellen).

Nutzungsstrukturen bei Kultureinrichtungen, die im Bourdieuschen Sinne den legitimen Geschmack repräsentieren, entsprechen demnach viel eher den gängigen Annahmen, dass ebendiese Einrichtungen von einem Klientel aufgesucht werden, das in erster Linie den oberen sozialen Lagen zuzurechnen ist. Die bei den anderen Lernorten beschriebene Überformung sozialer Einflussfaktoren durch den Faktor Raum ist hier nicht zu erkennen.

Abb. 9: Schauspielhaus Bochum: Abonnentenzahlen je Stadtteil


Quelle: eigene Berechnungen

Fazit

Die Erweiterung der Lernortdebatte durch eine sozialräumliche Perspektive zeigt zum einen, dass bei der Analyse unterschiedlicher Lernorte der Faktor Raum nicht außer Acht gelassen werden kann. Die Nähe zu einem Lernort bzw. eine gute Erreichbarkeit spielen offensichtlich für die Nutzung von Lernorten eine entscheidende Rolle. Dieser Raumeinfluss kann anscheinend auch über soziale und demographische Disparitäten hinweg wirksam werden, wie die Beispiele VHS und Stadtbücherei zeigen. Im Hinblick auf programmatische Überlegungen wie dem Konzept der ‚Aufsuchenden Bildung’ ist dieser Befund von besonderem Interesse. Vor allem bei der Stadtbücherei ließ sich zeigen, dass die Präsenz einer Zweigstelle in einem Ortsteil mit einer verstärkten Nutzung zusammenfällt, ohne dass bei diesem Zusammenhang soziale oder demographische Einflüsse festgestellt werden können.

Allerdings ist dieses Ergebnis nicht für alle untersuchten Lernorte gültig. Während der genannte Zusammenhang bei den eher ‚klassisch-traditionellen’ Lernorten wie der VHS und der Stadtbücherei deutlich zu Tage tritt, ist er bei den in der Diskussion über das Lernen Erwachsener ‚neuen’ Lernorten nicht feststellbar. Das Besucherverhalten bei Einrichtungen der Hochkultur steht in einem sehr engen Zusammenhang mit sozialen Merkmalen, die sich anscheinend nicht durch Raumeinflüsse irritieren lassen. Insofern kann festgehalten werden, dass mit der Kategorie Raum zwar ein neuer Faktor eingeführt werden kann, der für die Analyse von Lernorten (und vor allem deren Nutzung) nutzbar gemacht werden kann, dass dieser Faktor und dessen Einfluss aber sehr differenziert betrachtet werden muss. Das Verhältnis einzelner Lernorte zum Raum kann offenbar sehr unterschiedlich sein, und in der Konsequenz muss in der Lernortdebatte in dieser Hinsicht differenzierter argumentiert werden.

Ungeklärt bleibt somit, wie sich das Verhältnis zwischen den Einflussfaktoren Raum und sozio-demographische Lage genau darstellt. Es ist plausibel anzunehmen, dass noch weitere Faktoren bei der Erklärung der Nutzung von Lernorten oder – allgemeiner formuliert – bei der Erklärung von Weiterbildungsverhalten eine Rolle spielen. Verwiesen werden kann zunächst auf den in der Erwachsenenpädagogik populären Milieu-Ansatz, in dem Weiterbildungsverhalten unter Rückgriff auf das Milieu-Modell des Heidelberger SINUS-Instituts untersucht wird (vgl. Barz 2000; Barz/Tippelt 2004). Dieser Ansatz kann allerdings auch wiederum nur im Gesamtzusammenhang mit den Faktoren Raum, soziodemographische Lage und anderen Faktoren, die es in weiteren Untersuchungen noch zu isolieren gilt, gesehen werden.


Literatur

Arnold, R. u. a. (2002): Forschungsschwerpunkte zur Weiterbildung. Online im Internet: http://www.die-frankfurt.de/esprid/dokumente/doc-2002/arnold02_01.pdf

Barz, H. (2000): Weiterbildung und soziale Milieus. Neuwied/ Kriftel

Barz, H./Tippelt, R. (Hrsg.) (2004): Weiterbildung und soziale Milieus in Deutschland (2 Bde.). Bielefeld

Dehnbostel, P. (2002). Bilanz und Perspektiven der Lernortforschung in der beruflichen Bildung. In: Zeitschrift für Pädagogik, H. 3, S.  356–377

Feldmann, H./Schemmann, M. (2006): Raum als vergessene Kategorie zur Erklärung von Weiterbildungsverhalten. In: Erwachsenenbildung. Vierteljahresschrift für Theorie und Praxis, H. 4, i. E.

Fell, M. (1999): Bildungsräume der Erwachsenenbildung. In: Grundlagen der Weiterbildung, H. 4, S. 176–178

Friedrichs, J. (1977): Stadtanalyse. Soziale und räumliche Organisation der Gesellschaft. Reinbek bei Hamburg

Hartkopf, E. (2006): Sozialräumliche Strukturen und Disparitäten in Bochum. Zusammenfassung einer faktorialökologischen Untersuchung der aktuellen demographischen und sozio-ökonomischen Situation auf Ortsteilebene. Diskussionspapier aus der Fakultät für Sozialwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum. Bochum

Kuwan, H. u. a. (2006): Berichtssystem Weiterbildung. Integrierter Gesamtbericht zur Weiterbildungssituation in Deutschland. Hrsg. vom Bundesministerium für Bildung und Forschung. Bonn/Berlin

Matthiesen, U./Reutter, G. (Hrsg.) (2003): Lernende Region – Mythos oder lebendige Praxis? Bielefeld

Nuissl, E. (1991): Lernorte in der Erwachsenenbildung. In: Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung, H. 27, S. 11–14

Nuissl, E. u. a. (2006): Regionale Bildungsnetze. Ergebnisse zur Halbzeit des Programms „Lernende Regionen – Förderung von Netzwerken“. Bielefeld

Rogge, K. (1991): Lernen vor Ort. Zwischen Kultur- und Sozialarbeit. In: Zeitschrift für Entwicklungspädagogik, H. 2, S. 18-21

Schemmann, M. (2006): Weiterbildungsbeteiligung zwischen sozialer Lage und Raum. In: Weiterbildung. Zeitschrift für Grundlagen, Praxis und Trends, H. 5, i. E.

Seitter, W. (2001): Zwischen Proliferation und Klassifikation. Lernorte und Lernortkontexte in pädagogischen Feldern. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, H. 2, S. 225–238

Wittpoth, J. (2006): Große Fragen, kleine Antworten. Probleme und Perspektiven der Weiterbildungsforschung am Beispiel der Weiterbildungsregulation. In: Meisel, K./Schiersmann, C. (Hrsg.): Zukunftsfeld Weiterbildung. Standortbestimmungen für Forschung, Praxis und Politik. Bielefeld


Henning Feldmann M.A. ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Pädagogik der Ruhr-Universität Bochum.

Dipl.-Soz.-Wiss. Emanuel Hartkopf ist Mitarbeiter am Lehrstuhl für Erwachsenenbildung an der Ruhr-Universität Bochum.


[1] Hinter der Bezeichnung Kultur und Deutsch verbergen sich Kursangebote zu den Themen Deutsch für Deutsche, Grammatik und Rechtschreibung. Zum Erhebungszeitraum waren auch die Angebote zum Thema Deutsch als Fremdsprache in diesem Fachbereich integriert und machten einen großen Anteil dieses Fachbereiches aus.

[2] Anzumerken ist, dass sich der Zusammenhang bei der Nutzerdichte der Erwachsenen als Tendenz zwar deutlich zeigt, jedoch nicht für alle Zweigstellen eindeutig zutrifft (Wattenscheid-Mitte und Gerthe).